«Tiere» in SPUREN Nr. 55/2000

Therapie im Sattel

Sie sind nicht nur schön und intelligent, Pferde sind in vielerlei Hinsicht auch heilsam. Ein Bericht über die therapeutische Arbeit mit Pferden.

Von Tina Braumandl

Von einer tiefen Verzweiflung getrieben, entschied der 14-jährige David eines Nachts, sein Leben zu beenden. Zwei Jahre lang hatte er an einer psychischen Krankheit gelitten und dabei seinen Lebenswillen verloren. Nun wollte er noch zum Korral und sich von seinem Freund, dem Hengst Trianero, verabschieden. Er kletterte über den Zaun und erzählte dem Pferd seinen Kummer, dann öffnete er seine Hand und zeigte ihm die Glasscherbe. Trianero stiess die Hand des Jungen mit seinem Kopf an und die scharfkantige Scherbe fiel zu Boden.

David brach in Tränen aus. Er blieb schliesslich bei dem Pferd und weinte sich in den Schlaf. Wie ein Wächter stand Trianero bei ihm, bis die Morgendämmerung anbrach. Für David dämmerte nicht nur ein neuer Tag, es war der Beginn eines neuen Lebens. Als ihn Adele von Rüst McCormick und Marlena Deborah McCormick, die Psychologinnen des Reittherapiezentrums «Three Eagles Ranch» in Calistoga, Kalifornien, am Morgen im Korral fanden, waren sie zutiefst erstaunt.

Die schweigende, urteilsfreie und nicht manipulative Anwesenheit von Trianero hatte David ermöglicht, sich zu öffnen. Ungeachtet der bewussten oder unbewussten Absicht des Pferdes, fühlte sich der Junge von dessen Gegenwart auf eine Weise getragen, wie es ihm mit Menschen wahrscheinlich nicht möglich war. Pferde scheinen zu wissen, was Menschen wirklich brauchen. Sie kümmern sich nicht um Äusserlichkeiten und reagieren stattdessen auf den Wesenskern des Menschen.

Boten Gottes

Pferde sind schön, stark, vital und sie sind mit allem verbunden. Sie haben uns Menschen über die Jahrhunderte hinweg geholfen, wo immer wir sie gebraucht haben. Die Entwicklung der Menschheit wäre nicht dieselbe, wenn wir auf die Hilfe von Pferden hätten verzichten müssen.

Der heilige Franziskus glaubte, dass Tiere unsere Verbindung zum Göttlichen auf Erden sind &endash; heilige Boten Gottes, die eine ähnliche Rolle spielen wie die Engel.

C. G. Jung vertrat die Ansicht, dass wilde Pferde unsere unkontrollierbaren, instinktiven Triebe verkörpern, die aus dem Unbewussten auftauchen, obwohl wir versuchen, sie zu unterdrücken. Der Zentaur aus der Fabel ist halb Mann, halb Pferd und symbolisiert den Versuch, diese innere Trennung aufzulösen und unsere menschliche und animalische Seite zusammenzubringen. Jung glaubte darüber hinaus, dass Pferde im Mythos unsere magische Seite symbolisieren, «die Mutter in uns», die intuitiv und verständnisvoll ist.

Heute, da wir auf die physische Kraft der Pferde fast nicht mehr angewiesen sind, setzen wir sie dort ein, wo wir es nötig haben: im Freizeitbereich, im Sport und als Heiler. Pferde helfen Menschen auf der körperlichen, der emotionalen und der seelisch-beziehungsmässigen Ebene.

Getragen

Pferde bieten uns ihre Körper zum Anfassen, Streicheln, Putzen, Schmusen und Spielen. Alle Sinne werden dadurch angesprochen. Ausserdem sind sie stark genug, um uns zu tragen. Auch wenn sie von Natur aus zum Reiten eigentlich nicht gebaut sind, werden sie durch Training der Rückenmuskulatur stark genug dafür. Auf einem Pferd zu sitzen ist für die meisten Menschen ein erhebendes Gefühl. Wann hat uns zum letzten Mal jemand getragen? Das waren meistens die Eltern in der Kindheit. So kann getragen werden vom Pferd auch heissen, sich befreit zu fühlen von Sorgen und Pflichten des Alltags.

Sich einem anderen Wesen anzuvertrauen hilft auch loszulassen &endash; körperlich wie geistig und seelisch. Die Bewegungen des Pferdes wirken harmonisierend und entspannend, das belebt. Ein langsamer Trab, bei dem man entspannt sitzen bleibt, löst Spannungen im Körper und setzt blockierte Energien frei. Ein wilder Galopp hingegen wird meist als beglückende Befreiung erlebt, denn im Galopp kommt eine Kraft und Vitalität zum Vorschein, die unvergleichlich ist! Dies alles ist natürlich erst nach einer gewissen Zeit des Lernens mit Pferden möglich. Diese Entwicklung im Umgang mit dem Pferd, die oft ein Leben lang andauert, ist wie jeder andere Lernprozess von grossem innerem Wert.

Freund und Lehrer

Meine eigene Beziehung zu Pferden begann mit neun Jahren, als mein Vater mich und meine jüngere Schwester zu einem Ponyhof brachte, wo wir Ausritte erlebten auf Fjordpferden, die hinterei -nander angebunden waren. Später lernten wir richtig reiten und verlebten so manchen Urlaub in Reitlagern.

Da ich in meiner Kindheit wenige Fixpunkte hatte (viele Ortswechsel, Scheidung der Eltern), waren Pferde die Retter meiner Seele. Nachdem ich mehrere Jahre im Ausland verbracht und mich zur Körpertherapeutin ausgebildet hatte, fand ich eine Synthese zweier Leidenschaften, nämlich mit Pferden therapeutisch zu arbeiten. Dies tat ich zuerst in einem Heim für verhaltensauffällige Jungen, später mit meinen eigenen zwei Pferden.

Die kleine Appaloosa-Stute Ishu gehört nun seit acht Jahren zu unserer Familie. Anfänglich war sie ein überdrehtes Pferd, nervös und unnahbar. Von Anfang an war sie dick befreundet mit dem kleinen, weissen Maulesel Sebastian, der ihr mit seiner gelassenen und übermütig-frechen Art bald zu mehr Ruhe und Vertrauen verhalf. Ich hingegen brauchte beinahe zwei Jahre, bis sie mir ihr Vertrauen schenkte und eine tiefe Freundschaft beginnen konnte. Ishu spiegelte meine eigene Unnahbarkeit und Angst vor Intimität. Auch meine Unsicherheit bekam ich immer wieder vor Augen geführt. Ihr grosses Herz half mir über die Jahre, besser und verlässlicher lieben zu lernen.

Drajyan, unser siebenjähriger silbergrauer Wallach, zwang mich mit seiner dominanten Art, mich mit meiner autoritären Seite auseinanderzusetzen. Die Machtkämpfe, die wir austrugen, waren feuriger Art und stärkten meine männliche Seite. In diesem Prozess wurde mir meine unbewusste Überheblichkeit klar, welche sich fortan immer weniger zeigte. In den letzten drei Jahren haben wir einen liebevoll-partnerschaftlichen Umgang miteinander gefunden. Die Tiere sind für unsere Familie von unschätzbarem Wert, auch wenn wir viel Einsatz für sie erbringen. Oft sind Kinder bei den Pferden, wenn sie nicht klarkommen mit der Welt und sie erleben in der Gesellschaft der Tiere manch ein Abenteuer.

Zorn

Die Erfahrung von Tobias veranschaulicht, wie Pferde uns herausfordern können zu einer Änderung der inneren Haltung: Der angespannte 29-jährige Tobias nahm mit seinem Pferd Reitstunden bei der erfahrenen Reitlehrerin Mona. Er war ein Mensch vol -ler Aggressionen und selbst auf dem Rücken des Pferdes verflog sein Ärger nicht. Oft brüllte er das Tier an und nannte es dämlich. Jedesmal, wenn er in diesem Zustand reiten wollte, versuchte das Pferd, ihn abzuwerfen. Es stellte sich auf die Hinterbeine oder drängte sich gegen einen Zaun. Tobias' Wut richtete sich auch gegen Mona, weil sie ihm keine schnellen Tricks oder Techniken vermittelte, die sein Problem behoben.

Auf der Suche nach einer Lösung liess Mona vor dessen Augen andere Reiter auf dem Pferd von Tobias reiten. Und siehe da, es benahm sich vorbildlich und erwies sich als sehr kooperativ. Als Tobias dies sah, reagierte er vorerst mit Zorn und Eifersucht. Doch bis zur nächsten Stunde hatte er genug Zeit, um darüber nachzudenken und sich zu fassen. Als er wieder kam, war seine Abwehrhaltung weniger stark. Es gab offensichtlich keine Tricks und Techniken zu lernen und auch das Pferd musste sich nicht ändern. Sobald Tobias gelernt hatte, seine Wut zu kontrollieren und toleranter zu werden, beruhigte sich das Pferd unter ihm.

Mädchen und Pferd

Pferde drücken auf ganz natürliche Weise grundlegende Instinkte aus, die für das körperliche, psychologische und spirituelle Überleben des Menschen notwendig sind. Dazu Adele und Marlena D. McCormick: «Die Arbeit mit Pferden gibt den Menschen eine konkrete und greifbare Methode an die Hand, um jene Aspekte ihrer selbst zu meistern, vor denen sie sich am meisten fürchten, beispielsweise Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität oder der Aggression. Während wir lernen, mit einem Pferd umzugehen und die Triebe des Tieres zu kanalisieren, verinnerlichen wir spontan den Prozess. Durch die unbewusste Identifikation mit dem Pferd begreifen wir unsere grundlegenden Triebe und den Wert, der ein gewisses Mass an Selbstkontrolle darstellt. Durch die Arbeit mit dem Pferd erhalten wir ein neues Gespür, das uns hilft, uns selbst zu bemeistern.»

Kein Zufall also, dass Pferde eine besonders grosse Anziehungskraft auf pubertierende Mädchen ausüben. In der Zeit der Ablösung von den Eltern, wenn sie sich einem Freund noch nicht zuwenden wollen oder können, dienen Pferde Mädchen oftmals als Überbrückungshilfe. Sie bieten ihnen Halt und füllen eine emotionelle Lücke. Lassen sich Mädchen auf eine Beziehung mit Pferden ein, werden diese meist mit grosser Hingabe geputzt und gepflegt. Die Versorgung der Tiere fordert ein selbstbewusstes Auftreten der Mädchen und ermöglicht ihnen, die Grenzen der üblichen Mädchenrolle hinter sich zu lassen.

Pferde verlangen im täglichen Umgang neben zärtlicher Zuwendung zeitweilig auch eine harte Hand. Mädchen dürfen hier nicht nur Mädchen sein, sondern auch Junge; nicht nur liebend, sondern auch hassend, nicht nur defensiv, sondern auch aggressiv, nicht nur sanftmütig, sondern auch befehlend, nicht nur bescheiden, sondern auch grossspurig. Sie finden als Reiterin einen Ort und ein Objekt der Geschlechtsüberschreitung. Neben typischen weiblichen Rollen, wie beispielsweise pflegen und bemuttern, können männliche Rollenmuster wie Macht und Stärke ausgelebt werden.

Mac der Heiler

Wie heilen Pferde? Ein Bericht aus der amerikanischen Zeitschrift Species Link (Dezember 1999) über die «Serendipity Stables» in Mansfield, Ohio, zeigt einige weitere Aspekte: «Ausschlaggebend für den Beginn der therapeutischen Arbeit mit Pferden war für die Pfarrerin Michèle Davis, Ph.D., der Besuch von zwei autistischen Kindern, deren Eltern vom heilsamen Umgang mit Tieren gehört hatten. Dies ist nun 14 Jahre her. Die Kinder wurden auf Mac, das ursprüngliche Heilerpferd von Michèle Davis, gelegt, bäuchlings oder rücklings, vollständig bewegungslos und total entspannt.

Die anderen Pferde der Herde, alle um die zwanzig Jahre alt, standen um Mac herum und schauten zu. Die autistischen Kinder wurden auf diese Weise nach mehreren Besuchen geheilt. Mit der Zeit wurden alle Pferde des Stalles Heiler und begannen, auch so zu agieren wie Mac. Bevor Mac 1998 im Alter von fünfzig Jahren starb, übertrug er seine starke Heilenergie. Er stand für Stunden Nase an Nase mit einem anderen alten Pferd, das heute sein Nachfolger ist.

Für Michèle Davis gehört spirituelles Heilen zum Alltag, und daher war es für sie auch natürlich, ihren Pferden diese Qualitäten zuzugestehen. Es scheint, dass die Pferde wissen, welche Menschen sie heilen können, und dass sie eher spezielle Personen heilen als spezielle Krankheiten. Die hellsichtige Mutter einer kleinen Patientin beschrieb Macs Energie während des Heilens als frei fliessend. Sie konnte Schichten von Farben um Mac und ihre Tochter sehen, nachdem er «gearbeitet» hatte und erlebte es wie elektrische Vibrationen. Dankbare Menschen sind nun dabei, auf Michèles Farm eine Gesundheitsklinik aufzubauen.»

Gesunde Therapeuten

Um heilen zu können, müssen Pferde gesund sein. Da sie Herdentiere sind, brauchen sie, um sich wohl zu fühlen, Artgenossen, mit denen sie kommunizieren, spielen und schmusen können. Da sind sie genau wie Menschen. Ausserdem braucht es liebevolle Menschen, die ihre Qualitäten erkennen und fördern. Pferde würden sich naturgemäss fast ständig bewegen. Das heisst, sie brauchen viel Auslauf. Ausserdem brauchen sie natürlich gesundes Futter, Wasser und Schutz vor Witterungseinflüssen. Leider stehen immer noch die meisten Pferde in Einzelboxen und haben oft nur Auslauf, wenn sie geritten werden.

«Der Mensch hat mit der Domestikation des Pferdes eine riesige Verantwortung übernommen», meint Pia Rennollet, Autorin des Buches Der Traum vom Pferd. «Dieser Verantwortung für das schutzbefohlene Wesen Pferd wird er in der Regel nicht gerecht. Es geschieht nicht bewusst, sondern aus mangelnder Sachkenntnis über das Wesen des Pferdes. Anstatt das Pferd Pferd sein zu lassen, wird es vermenschlicht. Es werden Wohnzimmertiere gezogen, die in den Ställen in vergitterten Boxen das Leben eines Schwerverbrechers führen müssen. Einzelhaft hinter Gittern, ohne die Möglichkeit der sozialen Kontaktaufnahme mit Artgenossen. Ein bis zwei Stunden Hof- oder Hallengang täglich sollen das freie He -rumziehen innerhalb eines festen Herdenverbandes bei Wind und Wetter ersetzen. Das Resultat dieser Haltungsform ist körperliche und geistig-seelische Verkümmerung. Hier stehen menschliche Bequemlichkeiten, Bedürfnisse und Anforderungen im Vordergrund.»

Pferde geben dem Menschen unendlich viel. Was geben wir ihnen? Der «Verein für naturnahe Pferdehaltung» unterstützt Menschen in der artgerechten Tierhaltung. Eine Institution, die sich seit vierzig Jahren für die Freiheit und das Wohlbefinden der Pferde einsetzt, ist «Die Stiftung für das Pferd» im Jura. Kurt Weibel, dem Präsidenten der Stiftung und Autor der jährlich erscheinenden Kleinen Pferdegeschichten, möchte ich das Schlusswort geben. Er schreibt: «Eine der wichtigen Lehren, die ich aus dem Umgang mit den Pferden gezogen habe ist: Wie viel einfacher ist ihr Leben als das unsere, wie beschränkter der Umfang, die Vielfalt ihres Erlebens, wie viel länger sind auch die scheinbar leeren, ereignislosen Strecken ihres Daseins. Und doch: Um wie viel sorgloser leben sie als wir! Und wie viel eindeutige Ruhe, Zufriedenheit, eindeutige Lust und Freude ist an ihnen festzustellen!

Ja, neben Pferden nehmen sich Menschen mit ihrer nervösen Rastlosigkeit, mit der unstillbaren Gier nach Veränderung, nach Sensationen, nach neuen Lüsten oft lächerlich aus. Dazu diese blindwütige Sucht nach Geld, nach noch mehr, noch schönerem technischem Spielzeug &endash; macht denn diese lärmige Hetzjagd das Dasein wirklich reicher und lebenswerter?»

Literatur: Adele von Rüst McCormick/Marlena Deborah McCormick: Pferde als Heiler, Econ TB Verlag 2000, München 2000, 252 Seiten, Fr. 16.90

Pia Rennollet: Der Traum vom Pferd, Neue Erde Verlag, Saarbrücken 2000, erscheint demnächst

Bärbel Wegner und Helga Steinmaier: Von Frauen und Pferden, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 1998, 296 Seiten, Fr. 38.90

Lawrence Scanlan: Verrückt nach Pferden. Bertelsmann Verlag, München 1999, 351 Seiten, Fr. 41.50

Kurt Weibel und Daniel Beuret: Klein

Pferdegeschichten, Stiftung für das Pferd, Le Roselet 1999, CH-2345 Les Breuleux, Tel. 032/95918 90

Kontakte: Schweizerische Vereinigung für Heilpädagogisches Reiten. Adressen von Reitpädagoginnen durch Ursula Zeller, Goldhaldenstr. 53, 8702 Zollikon

Verein für naturnahe Pferdehaltung, Wilfried Sidler, Brüttisellenstr. 11/14, 8602 Wangen

Die Adressen von weiteren Reithöfen mit unterschiedlichem Hintergrund vermittelt die Autorin Tina Braumandl, Bahnhofstr. 105, 4914 Roggwil, Tel. 062/929 37 89

 

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