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Aus SPUREN Nr. 65/Herbst 2002

Der Medzinmann vom Herrenberg

Er ist einer der führenden Ethnobotaniker, und jede Universität würde ihm einen Lehrstuhl anbieten. Wolf-Dieter Storl zieht jedoch ein Leben in den Allgäuer Bergen vor. Eine Annäherung von Willi Dommer

 

Über schmale forstwirtschaftliche Schotterwege quäle ich mein Gefährt mühsam in den Allgäuer Bergwald hinauf. Immer wieder erwische ich die falsche Abzweigung und lande nach wenigen Metern vor einem stachelgespickten Weidezaun, der mir die Weiterfahrt verwehrt. Zum Wenden ist der Pfad zu schmal. Also hektisch rudernd wieder rückwärts bergab. Kein Mensch weit und breit, den ich nach dem Weg fragen könnte. Irgendwann - nach etlichen schweisstreibenden Fehlversuchen - erreiche ich Hof Herrenberg. Drei Hunde bellen lautstark im Vorgarten eines alten Fachwerkhauses.

Hier oben, zwischen Isny und Kempten, lebt Dr. Wolf-Dieter Storl, einer der führenden Experten im Bereich Ethnobotanik, mit seiner Frau und zwei Kindern. Im Winter ist die Familie oft wochenlang eingeschneit. Keiner kann ins Dorf hinab, niemand kommt hinauf - kein Briefträger, kein Arzt. Bereits im Frühjahr fängt Dr. Storl an, Fallholz aus dem Wald zu holen und in den einstigen Stallgebäuden aufzuschichten. Der nächste Winter ist gewiss, und dann wird der Herd in der Wohnstube ständig nach Nachschub verlangen. Auch um Lebensmittelvorräte muss man sich beizeiten kümmern.

Aus- oder Einsteiger?

Viele Menschen haben mittlerweile der Stadt den Rücken gekehrt - kein Vergleich zu der Abgeschiedenheit, die ein Leben auf Herrenberg mit sich bringt. Was bewegt einen Menschen, dem eine glänzende Karriere an der Uni bevorstand, derart konsequent auszusteigen? Immerhin hatte Wolf-Dieter Storl schon als 24-Jähriger die Lehrbefugnis an der Kent State University in Ohio, unterrichtete als Gastdozent in Wien, erwarb den Doktorgrad an der Universität Bern. Er betrieb ethnobotanische Forschungen bei den Cheyenne in Wyoming, unternahm Studienreisen in die Türkei, nach Israel und Bangladesh. Dazwischen immer wieder Lehraufträge an US-Universitäten.

´Als Völkerkundlerª, sagt Storl, ´wird man leicht über den Rand des gesellschaftlich akzeptierten Weltbilds hinausgeschleudert.ª Durch den engen Kontakt mit anderen Kulturen betrachtete man die eigene Gesellschaft allmählich von ausserhalb. Immer wieder habe es Ethnologen gegeben, die den Weg zurück nicht mehr fanden. So etwa ein amerikanischer Kollege, der die Kultur der Zuni-Indianer vor Ort erforschte. Seine Berichte ans Institut wurden im Laufe der Zeit immer spärlicher, blieben schliesslich ganz aus. Als ihn eine Abordnung von Forschern aufsuchte, fand sie ihn reglos dasitzend, in eine indianische Decke gehüllt. ´Ich gebe keine Geheimnisse meines Volks preisª, beschied er den Besuchern. Er war gewissermassen zum Indianer geworden. Im Jargon der Ethnologen: ´Der hat sich zu sehr mit seinem Forschungsobjekt identifiziert.ª

Dr. Dreadlock

Wer Wolf-Dieter Storl nicht kennt, mag vielleicht denken, er habe der modernen Gesellschaft ebenso entsagt wie jener US-Ethnologe. Immerhin lebt er sehr abgeschieden, nimmt entsprechende Strapazen auf sich. Mit seinen Dreadlocks und dem langen Bart entspricht er kaum dem gängigen Bild eines Akademikers. Doch der Eindruck täuscht. Storl ist ein erfolgreicher Buchautor, schreibt für wissenschaftliche Magazine, ist ein gefragter Referent auf Kongressen und wird von TV-Talkern wie Jürgen Fliege oder Reinhold Beckmann zu Sendungen eingeladen. Und wenn er dort über den Geist der Pflanzen spricht, dürfte ein konventioneller Wissenschaftler entsetzt mit den Augen rollen.

Wem hat er sein Wissen über die Wirkung von Heilpflanzen zu verdanken? ´Vor allem meiner Grossmutterª, sagt Storl, 1942 in Sachsen geboren und als Zwölfjähriger mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Die Grossmutter stammte aus dem Erzgebirge; das Sammeln und der Handel mit Heilkräutern hatten in ihrer Familie Tradition. Zeitlebens war die Frau nie beim Arzt gewesen, und der Enkel folgt längst ihrem Beispiel. Er kuriert seine Leiden mit der Kraft der Pflanzen und Kräuter, die er im Wald findet oder im Garten gepflanzt hat. Vor etwa zwanzig Jahren hat er aufgehört, Bart und Haupthaar zu stutzen. ´Ein Bart verbindet mit den Erdkräftenª, erklärt er. Der bekannte Ethno-Pharmakologe Christian Rätsch habe mal bemerkt, dass alle guten Botaniker lange Bärte hatten. Und dann gibt's ja noch die Künstlermähne.

Mit Pflanzen sprechen

Während seiner Lehrtätigkeit am Sheridan College in Wyoming hat Wolf-Dieter Storl den Cheyenne-Medizinmann Bill Tall Bull kennen gelernt. Mit ihm ist er durch die Wälder gestreift, über die Prärie gewandert und hat viel über die Beziehung der Indianer zur Natur erfahren. ´Ich habe gedacht, Bill würde mir alles Mögliche über Heilpflanzen erzählenª, erinnert sich der Ethnobotaniker. ´Doch wirklich gelernt habe ich durch die Art, wie er mit den Pflanzen umging. Die Cheyenne reden nicht über die Pflanzen, sondern mit ihnen.ª Anders ausgedrückt: Die Medizinmänner und Schamanen der Naturvölker öffnen ihr Bewusstsein gegenüber dem Pflanzengeist, der sich in Visionen oder Träumen zu erkennen geben kann.

Storl hat selbst erfahren, wie eine Heilpflanze Kontakt zu dem Menschen aufnimmt, der sie gerade braucht. ´Vier Monate lang hatte ich von morgens bis spät abends an der Schreibmaschine gesessenª, erinnert er sich. ´Kaum mit dem Manuskript fertig, warf mich ein Fieber um, gefolgt von einer schweren Lungenentzündung. In der Nacht erschien mir im Traum ein gelbes Blümchen, freundlich strahlend wie die Sonne. Als ich am nächsten Morgen auf die spätwinterliche Landschaft hinausblickte, entdeckte ich an einer Böschung tatsächlich kleine gelbe Blümchen: Huflattich.ª Er braute sich einen Tee aus den Blüten auf, und kurze Zeit danach war der Infekt verschwunden.

Ein freier Mensch

Die materialistisch geprägte Zivilisation und besonders die moderne Naturwissenschaft tun sich indes schwer mit dem Gedanken, dass die Natur beseelt sein könnte. Je mehr Storl über die Beziehung der Indianer zu den Pflanzen erfuhr, desto schmerzlicher wurde ihm bewusst, wie weit er sich als Wissenschaftler von der Natur entfernt hatte. Wie ´in Zellophan gepacktª habe er sich gefühlt. Die Loslösung vom universitären Betrieb nahm ihren Lauf. Und der war durchaus nicht gradlinig: Ethnologiestudium in Wien, ethnografische Feldforschung im Emmental, biodynamisches Gärtnern im Kanton Genf, Reise nach Indien. Irgendwie führte ihn der Weg nach Friesland, wo er begann, sein Wissen vom Wesen der Pflanzen in Büchern niederzuschreiben. Und schliesslich ins Allgäu. ´Jetzt bin ich ein freier Menschª, sagt er. ´Das ist es mir wert.ª

Hof Herrenberg war lange Zeit ein Rittersitz und ging später in den Besitz des Benediktiner-Ordens über. 1188 wurde das Gut erstmals urkundlich erwähnt. Interessanterweise ist Storl 11/88 hier eingezogen - im November 1988.

Hat er eine besondere Beziehung zu dieser Gegend, nachdem er durch die halbe Welt gereist ist? Er habe noch nie so lange an einem Ort gelebt wie hier, sagt Storl, sei eigentlich immer auf der Suche nach einer verlorenen Heimat gewesen. ´Heil sein bedeutet auch, in Verbundenheit mit der Gegend zu leben, nicht abgetrennt von ihr.ª Ihm sei nicht daran gelegen, indianische Rituale nach Europa zu verfrachten. ´Unsere Pflanzen und Riten gehören nach Amerikaª, hatte Bill Tall Bull damals betont. ´Suche bei euch. Frage die Pflanzen, frage die Tiere.ª Überdies gebe es ja durchaus eine heimische Tradition heilkundlichen Wissens: von Hildegard von Bingen über Sebastian Kneipp bis hin zu Maria Treben.

Als ich auf Hof Herrenberg ankomme, giesst Storl gerade die Blumen in der winzigen Holzkapelle neben dem Haus. Sie wurde im Mittelalter errichtet und ist dem heiligen Rochus geweiht, dem Pestheiligen. Früher haben die Menschen Besen aus Birkenreisern an den kleinen Altar gestellt und um die Fürsprache des Heiligen gegen die Seuche gebetet. Heute kommen Gläubige aus der Umgebung hierhin, um die Befreiung von Hautleiden zu erbitten. Zwei Reisigbesen stehen an diesem Tag dort. In dem kleinen Raum duftet es nach orientalischem Räucherwerk. Das Bedürfnis nach Heilung ist schliesslich keine Frage der Religion oder Konfession und ihrer Äusserlichkeiten.

Vom leeren Geist

Zu viel religiöses oder esoterisches Vorwissen ist ohnehin hinderlich, wenn man mit dem Wesen der Pflanzen Kontakt aufnehmen will. Bei Meditationen in seinen Seminaren hat Storl festgestellt, dass sich gerade jene Menschen schwer tun, die Unmengen von esoterischen Büchern verschlungen haben. ´Der Geist muss leer werden, um sich dem Pflanzenwesen zu öffnenª, erklärt er. ´Angelesene Vorstellungen über das, was bei einer Meditation geschehen sollte, erschweren eine wirkliche Verbindung zu den Wesenheiten. Solche Leute fantasieren alles Mögliche hinzu und erfahren in Wirklichkeit nichts.ª

Ich möchte Hof Herrenberg nicht ohne einen Eindruck von Storls Garten verlassen.

Zunächst kommen wir in einen Bereich, der sich von einem üblichen Vorzeigegarten kaum unterscheidet: akkurate Gemüsebeete, parallel angeordnet, beiderseits eines Mittelwegs. ´Das ist der Oberkörper mit den Rippenª, erklärt Wolf-Dieter Storl, der den Garten anthromorph, also dem menschlichen Körper entsprechend, angelegt hat. Das Herz wirkt schon ganz anders: ein üppig bewachsenes Rondell mit mir völlig unbekannten Gewächsen. Der Gärtner wühlt mit beiden Händen in dem Wust von Blättern und Stängeln herum, um mir seine Helfer zu zeigen. Zu meiner Verblüffung handelt es sich um vier Gartenzwerge. Jeder von ihnen hat einen Namen und seine Aufgabe. Einen hebt er hoch: ´Frickª heisst er und malt die Blüten bunt. ´Die Figuren personifizieren die unsichtbaren Kräfte im Gartenª, erklärt Storl. Zu Beginn der dunklen Jahreszeit werden sie ins Haus geholt und finden ihren Platz am Herd - dem Herz des Hauses. Die Kinder freuen sich jedes Jahr darauf, die ´Heinzelmännchenª in der Adventszeit neu anzumalen. Frisch koloriert ziehen die Kobolde im Mai wieder im Garten ein.

Unterhalb dieses Herzens: ein Komposthaufen, ein Feuchtbiotop und ein regelrechtes Durcheinander von Gräsern und sonstigen Gewächsen, die viele als Unkraut einstufen würden. ´Der Unterleib des Gartensª, erläutert Storl und klärt mich über die Heilwirkung jeder einzelnen Pflanze auf. Er pflückt mir einen Strauss Schachtelhalm gegen meine hartnäckige Nagelbett-Entzündung: ´Zehn Minuten kochen, dann zehn Minuten die Fingerspitzen darin badenª, rät er. ´In einer Woche müsste die Entzündung weg sein.ª

Dem Kompost gilt seine besondere Liebe. ´Darin liegt das Geheimnis eines gesunden Gartensª, sagt er, greift mit beiden Händen in die dunkle erdige Masse und hält sie mir an die Nase: ´Der Geruch des Lebens.